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Post Series: Gyne

Gyne 03/2021

Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten!

Autorin:

Dr. med. Andrea Hocke

Einleitung

Vulvodynie ist eine Erkrankung, die in der Versorgung sowohl Patien- tinnenals auch Ärztinnenund Ärzte frustrieren kann. Das typische Er- scheinungsbild einer Vulvodynie ist ein chronisches, meist schmerzhaftes Missempfinden über mehr als drei Monate im Bereich der gesamten Vulva oder nur im Bereich des Scheidenvorhofs (Vestibulum). Einer spezifischen Erkrankung kann es in der Regel nicht zugeordnet werden. Die Schmerzstärke und die Frequenz des Auftretens der Schmerzen variieren stark.

In der Regel haben Frauen, die an Vulvodynie leiden, bereits Praxen mehrerer Fachrichtungen aufgesucht und sich Behandlungsversuchen unterzogen, ohne jedoch eine Besserung des Beschwerdebildes zu erleben. Oft haben sie über lange Zeit Antimykotika oder Antibiotika erhalten, obwohl nicht immer eine pathologische Besiedlung vorlag. Die oftmals erhebliche Einschränkung der Lebensqualität ist die Regel.

Fallbeispiel 1
32-jährige Patientin hat seit zwei Jahren Schmerzen und Brennen im Bereich der Vulva. Unter der Annahme einer Pilzinfektion erfolgte eine lokale Behandlung, wodurch es nur kurzfristig zur Besserung kam. Nach erneuter Zunahme der Beschwerden mehrfache lokale antimykotische Behandlung. Anschließend Behandlung mit Antibiotika bei Nachweis von E. coli im Vaginalabstrich. Jetzt auch Beschwerden beim Wasserlassen und Vorstellung beim Urologen. Eine längerfristige prophylaktische Antibiotikaeinnahme wurde empfohlen. Wegen der Schmerzen im Bereich der Vulva auch Vorstellung beim Dermatologen. Dort Empfehlung zur lokalen Cortisonbehandlung. Lokale Behandlungen mit Pflegecremes und Milchsäurekuren wurden durchgeführt. Die Beschwerden persistierten. Die Patientin wechselte mehrfach die gynäkologische Behandlung. Das Störungsbild der Vulvodynie wurde nicht erläutert und mit der Patientin nicht als alternative Diagnose diskutiert. Die Patientin fand letztendlich Informationen über die Vulvodynie im Internet.

Symptomatik und Diagnostik

Es gibt keine exakten Daten zur Häufigkeit des Auftretens einer Vulvodynie. In internationalen Studien variieren die Zahlen zwischen 10 % und 28 % [1, 2]. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 16–60 Jahren, wobei bei Beschwerden nach der Menopause das urogenitale Menopausensyndrom im Vordergrund steht.

Definition Vulvodynie

Bereits 1880 wurde der Scheidenschmerz in der Fachliteratur beschrieben. 2015 wurden in einem Konsensuspapier mehrerer internationaler Fachgesellschaften Terminologie und Klassifikation des persistierenden Scheidenschmerz und der Vulvodynie vereinheitlicht ([3],  Tab. 1).

Man unterscheidet zwei Typen von Vulvodynie, die wiederum vom Vulvaschmerz abgegrenzt werden:
– „Provozierte“ Vulvodynie, wobei der Schmerz durch Provokationim Bereich des Scheidenvorhofs entsteht, oft vor dem Hymenalsaum (PVD, Ehemals: Vestibulitis-Syndrom, meist bei jüngeren Frauen)
– Eine generalisierte Form, die den gesamten Bereich der Vulva betrifft und mit einem dauerhaften Mißempfinden einhergeht, auch ohne Provokation (GVD)

Erkenntnisse zur Ursache der Vulvodynie

Immer noch sind die Ursachen für das Entstehen einer Vulvodynie un- klar, und man geht von einem multifaktoriellen Geschehen aus [4]. Meist ist die Vulvodynie eine Ausschlussdiagnose. Als Auslöser werden oftmals vulvovaginale Infektionen mit anschließend häufig wiederholten lokalen Behandlungen identifiziert.

Histologische Untersuchungen zeigen eine Neuroproliferation im Bereich des Vestibulums. Ebenso finden sich vermehrt Lymphozyten, Mastzellen und proinflammatorische Zytokine. Allerdings sind diese Veränderungen nicht beständig in allen Studienergebnisse zu finden. Auch hormonelle Zusammenhänge werden diskutiert. So berichten Frauen häufig von unterschiedlichen Schmerzintensitäten im Verlauf des Zyklus. Aber auch hier findet sich kein einheitliches Bild. Bei gehäuftem Auftreten innerhalb Familien wird auch eine genetische Prädisposition diskutiert.

Anamneseerhebung

Frauen berichten von starken brennenden oder stechenden Schmerzen im Bereich der Vulva. Auch Juckreiz kann ein Symptom sein. Die Intensität und die Schmerzdauer variieren. Ganz entscheidend für die Diagnosestellung ist eine ausführliche Anamnese zu folgenden Punkten:

Entstehen und Verlauf der Schmerzentwicklung

  • Schmerzbeginn
  • Schmerzdauer- und Intensität (Schmerzskala 0–10; 0 = kein Schmerz, 10 = stärkster vorstell- barer Schmerz)
  • Schmerzwahrnehmung (z. B. brennend, juckend, stechend, dumpf)
  • Zyklische Veränderung der Schmerzintensität
  • Schmerzintensität im Tagesver- lauf
  • Zusammenhänge zwischen In- tensität und Bewegung (z. B. Fahrradfahren)
  • Zusammenhänge mit psychi- schen Belastungen
  • Was verändert den Schmerz (Positiv/Negativ) ?
  • Einführen von Tampons möglich?
  • Hilfreich: Schmerzfragebogen, Modul für viszerale und urogeni- tale Schmerzen(Frauen) der Deut- schen Schmerzgesellschaft [5]

Sexualanamnese [6]

  • „Wie sind Sie mit Ihrem Sexualle- ben zufrieden?
  • Beschreibungder Problematikbe- dingt durch Schmerzen, Schmerz- beginn.
  • Reaktion des Partners auf die Stö- rung, Auswirkung auf die Part- nerschaft
  • Sexualität vor Beginn der vulvä- ren Schmerzen
  • Einstellung zur Masturbation, oralem Sex

Fast immer wird bei Vulvodynie die Penetration als schmerzhaft erlebt [7]. Auch das Lustempfinden ist eingeschränkt, da das Erleben von Sexualität nie frei von Angst und Anspannung ist [8]. Immer wieder berichten Frauen, die an Vulvodynie erkrankt sind, von Schuldgefühlen gegenüber dem Partner. Oft kommt der Satz: „Ich habe Angst, dass mein Partner das nicht mehr lange mitmacht“.

Fallbeispiel 2
Dies zeigt, wie wichtig eine exakte Anamnese zum Erfassen von Differentialdiagnosen ist. Eine 26-jährige Patientin mit den typischen Beschwerden einer Vulvodynie und den typischen Behandlungsansätzen, die nicht zu einer Besserung führten. Befragt nach ihrem Sexualleben berichtete sie, dass sie mit 20 Jahren das erste Mal Geschlechtsverkehr gehabt habe und Gewalt in der Beziehung erlebt habe. In einer jetzt neuen Partnerschaft erlebe sie viel Wertschätzung, habe aber Angst vor der Penetration, die immer schmerzhaft sei. Sie gab an, dass sie sich bei den Ärzten nie getraut habe, über dieses Thema zu sprechen, aber auch nie gefragt wurde. Auch gegenüber ihrem Partner sei es einfacher, über unklare Schmerzen als über die Angst zu sprechen. Diagnostisch handelte es sich in diesem Fall um eine Dyspareunie, also um nicht organisch bedingte Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, und nicht um eine Vulvodynie.

Häufige Komorbiditäten
(z. B. andere chron. Schmerzsyndrome, z. B. Fibromyalgie, chronisches Beckenschmerzsyndrom, Reizdarm, -blase, Kiefergelenkstörung, Kopfschmerzen, Zähneknirschen)

Psychosoziale Anamnese

  • Aktuelle Belastungen
  • Gewalterfahrungen
  • Selbstfürsorge

Viel zu selten wird in den Anamnesen nach Gewalterfahrungen gefragt. 20–25 % der Frauen erleben sexuelle Gewalt im Erwachsenalter. Aber auch in der Kindheit erlebte Gewalterfahrungen führen, neben psychischen Erkrankungen, nicht selten auch zu Schmerzsyndromen [9]. Die Frage „Haben Sie in Ihrem Leben Gewalterfahrungen gemacht?“ gehört so in jede Anamneseerhebung.

Allgemeine medizinische Anamnese

  • Psychische   Vorerkrankungen (z. B. Angsterkrankung, Depression, Somatisierungsstörung)
  • Psychotherapieerfahrung
  • Medikamenteneinnahme (z. B. Pille, Psychopharmaka, Antibiotika, Antimykotika, Medikation zur lokalen Anwendung im Bereich Vulva)
  • Funktionsstörungen der Blase oder des Darms
  • Ess- und Trinkgewohnheiten(z. B. Zuckerkonsum, Trinkmenge, Alkoholkonsum)
  • Allergien (z. B. Lebensmittel)
  • Lebensmittelunverträglichkeiten (z. B. Fruktoseintoleranz)
  • Rez. Infekte (z. B. Blase, Pilzinfektionen, allgemeine Infektanfälligkeiten)
  • Hauterkrankungen (z. B. Neurodermitis)

Gynäkologische Untersuchung

Der oft schmerzhafte Geschlechtsverkehr und auch die Erfahrung, dass es bei und nach einer Untersuchung wieder zu Schmerzen kommt, führen in der Regel dazu, dass die Untersuchung auf Seiten der Patientin mit Angst verbunden ist. Das genaue Erklären der Untersuchungsschritte und auch die Eigeninspektion mit einem Handspiegel während der Untersuchung können der Patientin Sicherheit geben und dienen der Aufklärung. Patientin und Arzt/Ärztin arbeiten so als Team. Das Gefühl des Ausgeliefertseins tritt in den Hintergrund, und Ängste können schon bei der Untersuchung genommen werden. So kann z. B. erläutert werden, dass eine von der Patientin als Riss gedeutete Schleimhautveränderung nur eine Unebenheit im Schleimhautrelief ist. In den meisten Fällen kann man bei der Untersuchung keine makroskopischen Auffälligkeiten finden. Manchmal zeigen sich Rötungen, die aber insgesamt auch bei Frauen ohne Vulvodynie zu finden sind.

Im Rahmen der ausführlichen In pektion sollte unbedingt der „Wattestäbchen-Test“ (Abb. 1) durchgeführt werden.

Der gesamte anogenitale Bereich und insbesondere das Vestibulum werden mit dem Wattestäbchen abgetastet. So ist es der Patientin möglich, die Schmerzpunkte genau anzugeben. Auch zeigt sich, ob der Schmerz auslösbar ist durch Berührung oder ob er auch ohne Provokation besteht. Sehr häufig findet sich der Hauptpunkt des Schmerzes im Bereich der hinteren Kommissur zwischen 5–7 Uhr vor dem Hymenalsaum. Eine Untersuchung mit Spekula (ggf. Kinderspekula) und auch eine manuelle vaginale Palpation sollten durchgeführt werden, wenn es die Patientin zulässt. So kann festgestellt werden, ob es sich um ein vaginales Schmerzproblem, muskuläre Beckenbodendysfunktionen oder Schmerzen im kleinen Becken im Sinne eines chronischen Beckenschmerzsyndroms handelt.

Bei der Erstvorstellung sind die Entnahme eines zytologischen Abstrichs oder eines Frischpräparates und ein mikrobiologischer Vaginalabstrich sinnvoll. In der Regel wird das Ergebnis einen Normalbefund zeigen. Aber dies wird für die Patientin hilfreicher sein, die Krankheit zu verstehen, als die schlichte Aussage „Es sieht alles normal aus.“ Auch eine Bestimmung des  Scheiden-pH (< 4,5) sollte erfolgen. Insbesondere nach häufiger lokaler Anwendung von Antimykotika oder Antibiotika kann es zu einer Dysbalance des Scheidenmilieus kommen.

Fallbeispiel 3

37-jährige Patientin hat seit einem Jahr Schmerzen im Bereich der Vulva. Wie so oft erfolgten auch bei ihr mehrfache antimykotische und antibiotische Behandlungen, die nicht zu einer Linderung führten. Bei der gynäkologischen Untersuchung fand sich im Wattestäbchen-Test keinerlei Schmerz im Bereich von Vulva/Vestibulum. Bei der Palpation der Vagina gab die Patientin einen ausgeprägten Schmerz (Schmerzskala = 9) im Bereich der posterioren Vaginalwand an. Sie brach in Tränen aus. Sie berichtete auch von starken Nacken- und Kopfschmerzen. Seit kurzem habe sie eine Beißschiene, da sie stark mit den Zähnen knirsche. Sie könne sich im alltäglichen Leben als berufstätige Mutter von drei Kindern nie entspannen, habe immer das Gefühl, nicht zu genügen. Entspannungsmethoden kenne sie nicht. Zeit für Selbstfürsorge bleibe nicht. Sie habe seit vielen Jahren Durchschlafprobleme. In diesem Fall ist aufgrund der Gesamtproblematik am ehesten ein chronisches Beckenschmerzsyndrom zu diskutieren.

Therapieoptionen (Tab. 2)

Die Behandlung der Vulvodynie erfordert in der Regel ein multimodales Behandlungskonzept. Im Rahmen von zumeist nicht randomisierten Studien mit kleinen Fallzahlen werdenverschiedene Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die in der gynäkologischen Praxis oft nur schwer umzusetzen sind. Auch ist es nicht so leicht, für diese Behandlungsmöglichkeiten die richtigenAnsprechpartner zu finden. Zunächst sollten nicht invasive Verfahren angewendet werden [1]. Mit den Patientinnen muss besprochen werden, dass die Behandlungserfolge stark variieren können.

Antidepressiva wie Amitriptylin und Duloxetin, oder Antikonvulsiva wie Gabapentin und Pregabalin können wie auch bei anderen chronischen Schmerzsyndromen zum Einsatz kommen. Patientinnen stehen dieser Medikation zumeist eher ablehnend gegenüber, da sie Angst vor Nebenwirkungen haben und die Einnahme eines Psychopharmakons oft nicht nachvollziehen können.

Fallbeispiel 4

39-jährige Patientin mit einschießenden Schmerzen im Bereich der Vulva seit 5 Monaten. Die Schmerzen traten vor allem im Sitzen auf. Im Rahmen von gynäkologischen und orthopädischen Vorstellungen seien Normalbefunde erhoben worden. Ibuprofen, Novaminsulfon und Östrogencreme wurden verordnet, es kam nicht zur Besserung. Im Rahmen einer neurologischen Vorstellung wurden unter dem Aspekt eines neuropathischen Schmerzes Gabapentin 1.200 mg und Amitriptylin 25 mg als Startdosis verordnet. Unter der Medikation starke Benommenheit und Schwindel, die Patientin setzte die Medikation ab. MRT Becken unauffällig. Erneute Notfalleinweisung zur stat. Aufnahme, nachdem sie sich wieder mit starken Schmerzen beim Hausarzt vorgestellt hatte. Die gynäkologische Untersuchung war unauffällig, kein Anhalt für eine vulväre Ursache der Schmerzsymptomatik. Die Patientin war psychisch instabil, berichtete über Ein- und Durchschlafstörungen. Beginn einer Medikation mit Pregabalin 3 x 50 mg und Mirtazapin 7,5 mg zum Schlafanstoß. Darunter Schmerzlinderung und verbesserter Schlaf. In der neurologischen Untersuchung wurde der Verdacht auf eine Pudendusneuralgie geäußert. Empfehlung : Schmerz- und Physiotherapie.

Zu Missempfindungen durch ein Gefühl der Trockenheit kann es auch bei der Einnahme von niedrig dosierten hormonellen Kontrazeptiva kommen. Ein Auslassversuch sollte bei Frauen mit Vulvodynie in Erwägung gezogen werden. Auch wenn eigentlich kein Zusammenhang herzustellen ist zwischen Intrauterinpessar und Vulvodynie, kann doch mit der Patientin erörtert werden, ob eine Entfernung des Intrauterinpessars eventuell eine Linderung der Beschwerden bringen könnte.

Wenn Juckreiz im Vordergrund steht, kann eine Behandlung mit Antihistaminika versucht werden.

Die Vestibulektomie stellt eine operative Behandlungsmöglichkeit der provozierten Vulvodynie (PVD) dar. In den Studien zeigen sich gute Behandlungserfolge. Standardisierte Empfehlungen zu Operationstechniken für die verschiedenen Typen der Vulvodynie oder einheitliche Kriterien für die Beurteilung der Ergebnisse nach den Operationen fehlen allerdings [11]. Ein operativer Eingriff sollte nur dann versucht werden, wenn alle anderen Behandlungsmöglichkeiten versagen.

Beschrieben werden auch gute Behandlungserfolge mit CO2-Laser-Therapie [12]. Diese Behandlungsstrategie kann zurzeit noch nicht in der Routine empfohlen werden. Weitere Studien müssen folgen.

Einen hohen Stellenwert in der Behandlung der Vulvodynie hat die Physiotherapie des Beckenbodens. Betroffene Frauen geben sehr häufig eine Überempfindlichkeit und Schmerzen im Bereich des Beckenbodens an, bedingt durch Anspannung und damit verbundene Verkürzung der Muskeln in diesem Bereich. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Symptome der Reizblase sind häufige Folgen. Im Rahmen der Physiotherapie lernen Frauen zunächst, ihren Beckenboden überhaupt wahrzunehmen, um den Unterschied zwischen An- und Entspannung zu erkennen. Dehnungsübungen für die Muskeln der Beckenregion sind ein weiterer wichtiger Bestandteil. Biofeedback, Elektrostimulation und auch Stoßwellentherapie können die Übungen ergänzen. In mehreren Studien zu diesen Verfahren konnte ein deutlicher Rückgang der Beschwerdesymptomatik festgestellt werden [13, 14]. Auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologie, Geburtshilfe, Urologie, Proktologie, Verband der Deutschen Physiotherapeuten findet man in einer Liste Therapeuten, die sich auf das Thema spezialisiert haben [15].

Auch Akupunktur und Neuraltherapie kann in Einzelfällen Entlastung bringen [16].

Gerade unter dem Aspekt der Selbstfürsorge und Entspannung sollten Empfehlungen zu Entspannungsmethoden (z. B. Yoga, autogenes Training), Achtsamkeitstraining [17] und auch Meditation in jedem Vulvodynie-Behandlungsplan enthalten sein.

Die Bedeutung des bio-psycho-sozialen Schmerzmodells (Abb. 2, S. 43)

„Mein Arzt sagt, es ist die Psyche“. Mit diesem Satz stellen sich oft Frauen mit Vulvodynie in unserer Sprechstunde vor. Sie berichten von Angstsymptomen, depressiver Verstimmung, Schlafstörungen. Das Sexualleben ist wegen der Schmerzen und der Angst vor den Schmerzen stark eingeschränkt. Häufig sieht man in der Sprechstunde Frauen mit einem hohen Leistungsanspruch an sich selbst. Zeit für Selbstfürsorge und Förderung von Ressourcen gibt es nicht. Die Kriterien einer psychischen Störung nach der ICD-10 Klassifikation sind allerdings in der Regel nicht erfüllt.

Zum besseren Verständnis für die Patientin können die Zusammenhänge bei der Krankheitsentstehung anhand des biopsychosozialen Schmerzmodells gut erklärt werden. Die psychotherapeutische Begleitung ist wie bei allen chronischen Schmerzsyndromen zu empfehlen. Viele Untersuchungsergebnisse gibt es zur kognitiven Verhaltenstherapie [18]. Negative Überzeugungen und Gedankenmuster können im Rahmen der Therapie erkannt und auch verändert werden.

Psychische Erkrankungen in der Bevölkerung sind häufig. Die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland zeigte, dass ca. ein Drittel der deutschen Bevölkerung (18–79 Jahre) eine psychische Erkrankung hat [19]. Im Rahmen der Anamneseerhebung sollte immer aktiv gefragt werden, ob psychische Störungen bestehen. Bedingt durch die Schmerzbelastungbei einer Vulvodynie kann es zu einer Destabilisierung der psychischen Vorerkrankung kommen. Und umgekehrt können körperliche Beschwerden auch Symptome einer psychischen Störung sein (wie etwa einer Angststörung oder einer somatisierten Depression). Zunächst mag es ungewohnt erscheinen, nach psychischen Aspekten zu fragen. Für die Patientin bedeutet dies aber in der Regel, dass es im Gespräch Raum gibt, über ihre psychische Situation zu sprechen. Über die Bedeutung des Erhebens von früheren und auch aktuellen Gewalterfahrungen wurde bereits eingegangen.

Behandlungsmöglichkeiten in der gynäkologischen Praxis

Alle vorgestellten Interventionen führen nicht unbedingt zu einer Linderung der Schmerzsymptomatik bei einer Vulvodynie. Klinische Studien mit großen Fallzahlen gibt es nicht. Erfahrene Ansprechpartner zu speziellen Therapieansätzen, wie z. B. Botulinum-Injektionen oder zur Durchführung einer Vestibulektomie, sind selten. Und ein Platz für eine Psychotherapie ist trotz der hohen Dichte von PsychotherapeutInnen in Deutschland nicht immer einfach zu finden.

In der ICD-10 findet man die Diag- nose „Vulvodynie“ nicht. Die F45.34 „Somatoforme autonome Funktionsstörung des Urogenitalsystems“, also eine Vulvodynie als reine psychische Störung, bildet die Erkrankungnicht korrekt ab. Auch die N94.8 „Sonstige näher bezeichnete Zustände im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus“ ist als Sammelbecken für unspezifische Veränderungen ebenfalls unbefriedigend bei der Diagnosevergabe.

In der ICD-11, die ab 1.1.2022 in Kraft treten soll, wird es die Diagnose Vulvodynie (GA 34.02) geben. Zwar gibt es Kritik an der Darstellung des Krankheitsbildes in der ICD-11 [20]. Aber es besteht die Hoffnung, dass sich ein anderes Bewusstseinfür die Erkrankung entwickelt, wenn es einen „offiziellen“ Namen dafür gibt. Es lohnt durchaus, mit der Patientin diesen Aspekt anzusprechen und auf die zukünftigen Entwicklungen hinzuweisen.

Die Einschränkungder Lebensqualität der Patientinnen mit Vulvodynie ist groß. Frauen berichten oft, dass sie den Eindruck haben, Ärztinnen und Ärzte, die sie aufgesucht haben, wissen nicht, was sie mit ihnen machen sollen. Man nehme die Beschwerden nicht ernst. Die Diagnose Vulvodynie sei vielen ÄrztInnen unbekannt. Dies führt bei den Patientinnen zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins und letztendlich auch zu einer Zunahme der Beschwerdesymptomatik. Die Empfehlung zu einer (erneuten) antimykotischen Medikation werde oft ohne ausführliches Gespräch und ohne erneute mikrobiologische Kontrolle ausgesprochen. Es herrscht Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Was haben wir also für Behandlungsoptionen in der alltäglichen Routine einer gynäkologischen Praxis?

Die Erstvorstellung ist zeitaufwendig. Aber die ausführliche Anamnese ist wichtig, um das multifaktorielle Geschehen bei einer Vulvodynie zu verstehen und multimodale Behandlungskonzepte zusammen mit der Patientin zu planen. Jedes Gespräch ist bereits eine Intervention, die für die Patientin Entlastung bringen kann.

Bei der psychosomatischen Gesprächsführung stehen Wertschätzung, Normalisierung und Entpathologisierung im Vordergrund [21]. „Es gibt die Erkrankung Vulvodynie. Wir sehen häufig Patientinnen mit dieser Beschwerdesymptomatik. Eine wirkliche Ursache für diese Erkrankung ist immer noch nicht gesichert. Aber wir werden Wege finden, Ihre Beschwerden zu lindern“ Mit diesen Sätzen fühlt sich die Patientin ernst genommen. Sie ist nicht mehr allein, und sie sieht, dass es vielleicht doch Möglichkeiten einer Genesung geben kann. Nach dem langen Erstgespräch sind erfahrungsgemäß übrigens weniger Folgetermine erforderlich als sonst üblich.

Die Indikation für antimykotische oder antibiotische Behandlungen sollte sehr streng gestellt werden, und wenn überhaupt, dann nur nach mikrobiologischem Nachweis. Nicht selten lassen die Symptome in der Zeit des Wartens auf ein Ergebnis bereits nach, vor allem wenn die Patientin gut aufgeklärt wurde und ihr Möglichkeiten der nicht medikamentösen Behandlung im Rahmen der Selbsthilfe aufgezeigt wurden.

Oftmals bestehen Partnerschaftskonflikte im Rahmen der Sexualität aufgrund der Beschwerden. Ein Austausch mit dem Partner findet in der Regel nicht statt. Das Gefühl von Schuld und Scham lässt Frauen mit der Diagnose Vulvodynie und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verstummen. Über die Probleme im Bereich der Sexualität und die Partnerschaftskonflikte zu sprechen, gelingt Frauen meistens nur, wenn wir als GynäkologInnen die Möglichkeit zum offenen Gespräch anbieten. Zumeist besteht Angst vor einer Penetration und den damit verbundenen Schmerzen. Hilfreich kann es sein, die Frauen zu ermutigen, auch andere Sexualpraktiken auszuprobieren. Ängste können gelindert werden, wenn mittels Vaginaldilatatoren (Verordnung mit Rezept), Vibratoren, Vaginalkugeln etc. zunächst wieder vorsichtig mit Vulva und Vagina Kontakt aufgenommen wird, entweder in der Selbstbehandlung oder auch im Erleben der Sexualität mit dem Partner.

In der Beratung und Behandlung sind Informationen zur Selbsthilfe überaus hilfreich [10]. So ist z. B. das Kühlen der Vulva in vielen Fällen sehr schmerzreduzierend. Phytotherapeutika können Vulvovaginalbeschwerden lindern [22]. Auch wenn es kaum Untersuchungen  zu alternativen Therapiemethoden gibt, werden in unserer Vulvodynie-Sprechstunde gute Erfolge damit erzielt. In der  Tabelle 3 (S. 44) sind viele Maßnahmen aufgelistet, die im Lauf der Zeit zusammengetragen wurden. So wurde z. B. Meersalzbad in die Liste aufgenommen, nachdem eine Patientin von Beschwerdefreiheit während eines Badeurlaubs am Meer berichtete.

Fazit für die Praxis

Als Betroffene verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen zu haben, mindert das Gefühl des Ausgeliefertseins. Die wiedererlangte Autonomie und das Wissen, dass man als Patientin ernstgenommen wird, sind positiv wirkende Faktoren. Aktives Handeln und das Erleben von Wertschätzung verbessern die Heilungschancen.

Die Zusammenarbeit mit den Patientinnen, die an einer Vulvodynie leiden, kann so doch unerwartet als sehr befriedigend erlebt werden.

Der Einsatz eines multimodalen Behandlungskonzeptes, das uns auch in der gynäkologischen Praxis zur Verfügung steht, nimmt uns als Behandelnden das Gefühl der Hilflosigkeit.

Die Behandlung einer Vulvodynie kann dann trotz aller Schwierigkeiten interessant werden und zu einem guten Erfolg führen.

Zusammenfassung

Als Vulvodynie bezeichnet man Schmerzen im Bereich der Vulva, die länger als drei Monaten anhalten. Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose, spezifischen Störungen der Vulva liegen nicht vor. Sehr häufig erhalten Frauen bei anhaltenden Schmerzen immer wieder Antimykotika oder Antibiotika ohne Indikation, da eine pathologische Besiedlung in der Regel nicht nachweisbar ist. Komorbiditäten sind häufig. Die Lebensqualität ist in der Regel eingeschränkt. Frauen fühlen sich zumeist hilflos und nicht ernstgenommen. Aber auch wir als Behandelnde erleben das Gefühl der Hilflosigkeit.

Zu den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten liegen zumeist nur Beobachtungsstudien vor. Einheitliche Behandlungsempfehlungen gibt es nicht. Wie bei anderen chron. Schmerzsyndromen können, psychotherapeutische Interventionen, gezielte Physiotherapie des Beckenbodens und Entspannungsmethoden zu deutlichen Entlastungen führen. Welche  Behandlungsmöglichkeiten gibt es aber in der Gynäkologischen Praxis? Bereits die Erläuterung des Krankheitsbildes und die Mitteilung, dass die Vulvodynie bekannt und gar nicht so selten ist, bedeutet immer Entlastung, merkt die Patientin doch, dass man als Arzt/Ärztin erfahren ist mit der Erkrankung und sie in ihrer Schmerzbelastung ernstnimmt. Ebenso die Anleitung zur Selbsthilfe mit praktischen Tipps und alternativen Therapiemöglichkeiten führt sehr häufig zu einem Rückgang der Beschwerden. Die Behandlung einer Vulvodynie kann unter dem Aspekt eines multimodalen Behandlungskonzepts, das auch in der Praxis umsetzbar ist, dann unerwartet interessant werden und zu einem guten Erfolg führen.

 

Schlüsselwörter: Vulvodynie – Behandlungskonzepte – Biopsychosoziales Modell – Arzt-Patienten-Beziehung

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

 

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Andrea Hocke
Gynäkologische Psychosomatik
Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde Universitätsklinik Bonn
Venusbergcampus 1
53127 Bonn

andrea.hocke@ukbonn.de
www.gynaekologische-psychosomatik.de

Slide Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten! Gyne 03/2021

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